Reportagen
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Dann melden sich die Frösche – Eine Nacht an der Elbe
Nur zur Sicherheit, denke ich, und gehe wieder zurück. Es ist 21.50 Uhr, ich war zwar schon aus der Haustür, aber sicher ist sicher. Lieber noch ein allerletztes Mal zur Toilette, als dass ich heute Nacht muss. Wenn ich allein in meinem Schlafsack an der Elbe liege.
Welt am Sonntag, 12. Juli 2020
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„Wenn die Menschen nicht nach Borkum können, bringe ich Borkum zu ihnen“
In der Corona-Krise fehlen Borkum die Touristen – und den Touristen fehlt Borkum. Doch es gibt „Mutmacher Albertus“: Wattführer Albertus Akkermann spielt und singt jeden Tag ein Lied am menschenleeren Strand. Zu sehen auch im Netz.
Welt online, 3. April 2020
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„Was wir brauchen, sind unangepasste Rollenbilder“
Als die Männer bei der After-Show-Party reihenweise Selfies mit ihr machen wollten, hat Leonie von Hase das erste Mal gezeigt, dass sie nicht ist, was ihre Vorgängerinnen waren: ein hübsches Accessoire für Fotos und Veranstaltungen verschiedenster Art. Sie lehnte ab. Die neue Miss Germany ist eine Mrs., eine Frau mit Lebenserfahrung. Und dem Willen, keine Schönheitskönigin zu sein.
Welt am Sonntag, 1. März 2020
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Hier riecht Geld nach Heu
In einer Welt, in der es Hengstsperma per Mausklick gibt, Embryonen von Stuten transferiert werden und Private Equity Fonds weltweit mitverdienen an der Zucht von Pferden, da ist eine Hengstschau das vielleicht letzte romantische Überbleibsel aus der alten Welt. Mit Girlanden aus echten Blumen und Niedersachsenlied, mit Bierbeißer und einem Schnaps wie früher beim Geschäft von Mann zu Mann. In ein paar Wochen dann geht es an den modernen Teil der Arbeit: mit Samenpipetten per Post für 5000 Euro.
Welt am Sonntag, 9. Februar 2020
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Gottes Hausmeister
Mit Schall kann man René Zetlitzer nicht so schnell erschrecken. Wenn der Michel-Küster gerade die Stellung der Kerzen auf dem Adventskranz kontrolliert und plötzlich die große Steinmeyer-Orgel durch die Kirche tönt, zuckt er nicht einmal ein bisschen zusammen. Zetlitzer ist der Chef der Küster im Michel. Sie sind morgens die Ersten in der Kirche und nach einem Konzert nachts die Letzten. Keiner kennt das Gebäude besser als sie, keiner macht mehr Überstunden. Ohne Küster kein Advent.
Welt, 23. Dezember 2019
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„Wir sehen den Obdachlosen beim Verelenden zu“
Bis vor Kurzem lebte Krzysztof unter der Hamburger Cremonbrücke, einer blauen Fußgängerbrücke, die über die Willy-Brandt-Straße führt. Krzysztof hauste dort etwa vier Jahre lang mit einem großen Orang-Utan aus Plüsch. Mittlerweile ist er umgezogen, in den Container 2150632, einer von 130 Kirchen-Containern für Obdachlose in Hamburg im Winter. Dort wohnt der Pole, seit er krank wurde und das Leben auf der Straße nicht mehr möglich war.
Welt am Sonntag, 24. November 2019
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Diese Strampler verändern Leben
Als Christian Brunner seine zehn Tage alte Tochter zum ersten Mal unter der dicken Decke in ihrer Babyschale sah, wirkte der Säugling auf ihn wie vom anderen Stern. „Mein Kind sah aus wie ein Alien“, erzählt der Vater heute, dreieinhalb Jahre später. Riesige Augen unter hohen Stirnknochen, eingefallene Wangen: Laura hatte keinerlei Babyspeck, nicht einmal ein bisschen Unterhautfett. „Ein Skelett im Hautmantel“, sagt Brunner. Und niemand wusste warum.
Welt am Sonntag, 8. September 2019
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Bauer Hans Möller setzt auf Elternzeit für Kühe
Hans Möller war erst 18 Jahre alt und zu Besuch im Europaparlament, als dem Sohn eines Bauern klar wurde, dass die Zukunft der Landwirtschaft nicht seine werden soll. „Das Ziel ist“, sagte damals der Abgeordnete, den er in Brüssel traf, „die Landwirtschaft zu industrialisieren und dort zu produzieren, wo es geografisch am günstigsten ist.“ Heute ist Möller 54 Jahre alt und ein Landwirt, der – anders als die meisten anderen in seiner Branche – nichts von dem macht, was der Parlamentarier einst prophezeite. Im Gegenteil: Er macht vieles so wie sein Großvater in den 60er-Jahren. Möller hat nur 120 Rinder, nur 15 Hektar Getreide und Gemüse und vor allem: trotzdem Erfolg.
Welt am Sonntag, 1. September 2019
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„Alte Dame“ im Harz: Seit 90 Jahren fährt die Seilbahn auf den Großen Burgberg
Wenn Frank Scheikowski über eine ganz bestimmte alte Dame spricht, funkeln seine Augen, und seine Stimme klingt ganz warm. „Gerade hatte sie Geburtstag“, erzählt er. „90 ist sie geworden, das haben wir groß gefeiert.“ Doch Scheikowski, selbst 60 Jahre alt, spricht nicht von seiner Mutter oder seiner Lieblingstante: Es ist die Seilbahn auf den Großen Burgberg in Bad Harzburg, von den Einheimischen gern „Alte Dame“ genannt, die jetzt durch ihr Jubiläumsjahr fährt. Vorher wurde die Altbetagte noch einmal ordentlich herausgeputzt: Sie bekam einen neuen, cremeweißen Anstrich und ein Geburtstagslogo mit Eichenlaub und einer weinroten 90 auf die metallene Außenhaut. Ehre, wem Ehre gebührt – schließlich gehört sie zu den ältesten Exemplaren ihrer Art weltweit.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30. Juli 2019
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Schwitzen mit Wumbo: So hart ist die Arbeit als Maskottchen im Freizeitpark
Sobald der braune Plüschkopf mit der roten Mütze korrekt sitzt und per Klettverschluss hinten am Hals festgemacht ist, heißt es: Ruhe bewahren. Nicht niesen, nicht husten – und auf keinen Fall lachen oder sprechen. Wer seinen Job als Riesenbär Wumbo, also als Maskottchen des Heide-Parks in Soltau, ernst nimmt, darf nichts davon preisgeben, dass in der plüschigen Hülle in Wirklichkeit ein Mensch steckt. Und wer glaubt, dass überdimensionale, lebendige Fantasiefiguren in Zeiten von Smartphones ihre Faszination verloren haben, dem sei gesagt: Wumbo hat nicht nur seinen eigenen Instagram-Account. Er ist schlicht der Popstar des Parks.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10. Juli 2019
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Wir beschäftigten uns intensiv mit verschiedenen Klimamodellen
Im Mai dieses Jahres, als die Tage noch längst nicht so heiß waren wie in dieser Woche, konnte man schon erahnen, wie ernst es um die Wasserreserven in Norddeutschland steht. Hamburg Wasser, das seine Kunden auch mit Grundwasser aus der Lüneburger Heide vorsorgt, zog gegen den Landkreis Harburg vor Gericht. Dieser hatte zuvor dem Unternehmen lediglich die Entnahme von 16,1 Millionen Kubikmetern erlaubt – und nicht die beantragten 18,4 Millionen. Es geht also um 2,3 Millionen Kubikmeter, eine vermeintlich kleine Differenz, wenn man weiß, dass die Hamburger im vorigen Jahr fast 120 Millionen Kubikmeter Trinkwasser verbraucht haben. Hamburg Wasser bezieht 13 Prozent Grundwasser aus Niedersachsen, circa 24 Prozent aus Schleswig-Holstein und rund 63 Prozent aus Hamburg.
Welt am Sonntag, 30. Juni 2019
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Gott, meine späte Liebe
Meine erste Vorstellung von Gott bekam ich, als mein Onkel mit Mitte 40 bei einem Autounfall starb. Meine Mutter sagte damals zu mir, sie könne nun nicht mehr an Gott glauben, wenn der so etwas Schreckliches zulasse. Ich versuchte mir daraufhin vorzustellen, was dieser Gott wohl sei. Wenn er etwas zulassen kann, muss er ja auch etwas verhindern können. Dafür aber muss er auf der ganzen Welt mitbekommen, was gerade passiert. Und das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Die Welt, 14. Juni 2019
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Wir brauchen ergiebige Niederschläge
Als Torsten Lemmermann an der Elbe steht und auf der Wiese nach seinen Galloways sieht, durchfährt ihn ein kurzes „Hurra“. Es regnet, endlich. „Das hilft ein wenig“, sagt der Landwirt ins Mobiltelefon. „Zumindest der Staub ist jetzt weg.“ Lemmermann hält in Lauenburg eine Herde Freilandrinder, und nach den sommerlichen Tagen rund um Ostern wurden bei ihm Erinnerungen an den Dürresommer im vergangenen Jahr wach. Damals verloren seine Kühe Gewicht in der Zeit, in der sie zunehmen sollten.
Welt am Sonntag, 28. April 2019
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Dorfbewohner mussten Rollfeld weichen – und jetzt kommt das A380-Aus
Wenn Manfred Hoffmann heute vom Deich aus auf sein Dorf blickt, kann der Senior sogar einen Witz machen. „So schön konnten wir früher nie auf unsere Kirche blicken“, sagt er, lächelt ein wenig und zieht die Schultern hoch. Als wollte er sagen: Wir können schon wieder lachen in Neuenfelde am Rande des Alten Landes. Dabei kann einem das Lachen hier im Halse stecken bleiben: Denn die Kirche ist nur deswegen so schön zu sehen, weil zwischen ihr und der Elbe jetzt eine Flugzeuglandebahn von Airbus liegt anstelle der Apfelbaumplantage.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 1. März 2019
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Der Kantor und sein rosarotes Raumschiff
Er lässt 50 Popos synchron schwingen, vor allem aber 50 Männerstimmen erklingen. Gerd Jordan leitet den schwulen Männerchor „Schola Cantorosa“ und ist Kantor in einer Hamburger Gemeinde.
Welt am Sonntag, 19. Juli 2018
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Selbst ist die Provinz
Im Festsaal hängt noch das Geschenk des Schützenvereins aus dem Jahr 1985: eine Ehrenscheibe, wie sie sonst der König bekommt. In der Vitrine im Flur sammelt die Landjugend silberne Pokale. Und in der Kegelbahn riecht es, wie es in einer Kegelbahn nun einmal riecht. Dieser Gasthof hätte längst tot sein müssen, würde auch hier, im niedersächsischen Kirchboitzen, das Gesetz der sterbenden Landgasthöfe gelten. Doch in Kirchboitzen, 630 Einwohner, ist es anders als anderswo.
Die Welt, 2. Juli 2018
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Wie sich die Heide vom Staub der Siebziger befreit
Bis zur blau-weiß karierten Tapete war alles gut. Doch dann krachte es auf dem beschaulichen Hof in der Heide. Mutter und Tochter Ehlers wollten das bunte Karo für die neue Ferienwohnung im ehemaligen Kuhstall unbedingt, der Vater auf keinen Fall. Veränderungen tun weh. Aber sie können auch gut tun. Heute fragen Urlauber schon bei der Buchung am Telefon nach dem karierten Zimmer, das macht auch den Vater stolz.
Herr Ehlers ist gelernter Tischler, Frau Ehlers gelernte Bürokauffrau, das Ehepaar steht für die zahlreichen Privatleute in der Heide, die einen Beherbergungsbetrieb führen, aber weder den Beruf gelernt haben, noch damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie betreiben nebenbei eine Tischlerei, bewirtschaften ein wenig Grünland und halten ein paar Kühe.
Beherbergungsbetriebe wie die Familie Ehlers in Bollersen, mit Mut zum Neuen, auch wenn es schmerzhaft ist: Davon soll es in der Lüneburger Heide demnächst mehr geben. Das zumindest wünschen sich Touristiker und Branchenkenner.
Welt am Sonntag, 8. April 2018
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„Wissen Sie, wie viele Lügen ich hier heute schon gehört habe?“
Die Narbe zieht sich knapp unter ihrem Kinn entlang, eine dunkelrote Linie auf blasser Haut. Als die zerschlagene Bierflasche Amanda* vor fast fünf Monaten an der linken Seite ihres Halses traf, verfehlte das spitze Glas ihre Hauptschlagader nur um wenige Millimeter.
Ein Mann soll schuld daran sein, dass die 22-Jährige aus dem niedersächsischen Celle am frühen Morgen des 2. Dezember 2017 beinahe zu Tode gekommen wäre. Hamidou S. habe die Frau mit dem abgebrochenen Hals einer Bierflasche angegriffen, weil sie seine Annäherungsversuche abgewiesen hatte, erzählten Amanda und ihre Lebensgefährtin der Polizei.
Seit dieser Woche steht der Mann aus Guinea nun wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung vor Gericht. Doch die beiden Frauen haben die Rechnung ohne den Richter gemacht.
Die Welt, 28. April 2018
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Wenn eine neue Bundesstraße Lebenspläne zerstört
„Wenn meine Lebensgefährtin und ich im Sommer abends ein Glas Rotwein tranken und Aida hörten: Da dachten wir, wir wären in Verona“, sagt der eine Mann. Er heißt Hans Markwardt* und wohnt seit 73 Jahren in Wilhelmsburg.
„Sie haben im Paradies gelebt. Dort wollten Sie alt werden. Dann kommen wir mit unserer Großbaustelle, und Ihr Paradies ist weg“, antwortet der andere. Er heißt Martin Steinkühler und arbeitet für eine Straßenbaufirma.
Dies ist die Geschichte von zwei Männern, die sich in tiefer Abneigung gegenüberstehen könnten. Der eine hat sich 23 Jahre lang in seinem Garten nach Italien geträumt. Der andere musste ihm sagen, dass dieser Traum bald ausgeträumt ist. Weil es eine Straße geben wird, die ganz in der Nähe seines Hauses entlangführen wird. Trotzdem lächeln beide, wenn sie sich sehen. Geben sich mit kräftigem Druck die Hand und lassen zum Abschied die Frau des jeweils anderen grüßen.
Welt am Sonntag, 18. Februar 2018
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Wenn die Nerven nicht mehr mitspielen
„Zu wissen, warum man so anders ist, kann unheimlich erleichternd sein“ – Kathrin Sohst hat in der Lüneburger Heide den bundesweit ersten Kongress zum Thema Hochsensibilität organisiert.
Kathrin Sohst war Mitte 20 und hatte gerade ihren ersten Job nach dem Studium begonnen, da wachte sie eines Morgens auf, fing an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Alles hatte sie bis dahin erfolgreich gemeistert: Abitur, Diplom, Bewerbung. Eigentlich sollte sie voller Energie stecken. Stattdessen lag sie im Bett, und ihre Tränen hörten nicht auf zu laufen.
„Was stimmt nicht mit mir?“
Nach einem halben Jahr Arbeit war die junge Frau am Ende ihrer Kräfte. Sie wusste nicht, was mit ihr los war. War sie krank? Oder unfähig, einen normalen Arbeitsalltag zu bewältigen? Heute, mehr als zehn Jahre später, weiß sie: Sie ist weder krank noch unfähig. Aber sie nimmt Eindrücke stärker wahr als andere. Die Eindrücke aus dem Großraumbüro, in dem sie arbeitete, waren zu viel für ihre Nerven. Und das ist wörtlich zu nehmen. …
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3. Juli 2017
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Das ungelöste Rätsel von Drage
Es ist eine Familientragödie, die bis heute Fragen aufwirft: Vor zwei Jahren trieb Marco Schulze tot in der Elbe, von seiner Frau Sylvia und Tochter Miriam fehlt bis heute jede Spur.
855 Einwohner zählt die Statistik für das Dorf Drage an der Elbe im Landkreis Harburg. Zwei von ihnen stehen zwar noch in den Akten, sind aber seit fast zwei Jahren vermisst, Mutter und Tochter. „Hier haben sie gelebt“, sagt Uwe Harden, und sein Blick geht in Richtung eines Einfamilienhauses mit roten Ziegeln und einer einfachen Rasenfläche davor. Harden ist der Bürgermeister des Dorfes, und mit „sie“ meint er Familie Schulze. Vater Marco, Mutter Sylvia und Tochter Miriam. Seit Sommer 2015 hat keiner der drei mehr den Rasen betreten. Den Vater fand man tot in der Elbe, von Mutter und Tochter fehlt jede Spur. Jetzt steht das Haus vor dem Verkauf.
In der Elbe treibt eine Leiche
Es ist der wohl mysteriöseste Kriminalfall der vergangenen Jahre in Norddeutschland. Am 22. Juli 2015 wird Marco Schulze das letzte Mal lebend gesehen, als er die Mülltonne an die Straße stellt. Am 30. Juli entdeckt ein Spaziergänger eine Leiche am Ufer der Elbe – es ist der tote Körper des Familienvaters, an seinem Bein hängt ein 20 Kilogramm schwerer Betonklotz. …
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 21. Juli 2017
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Christian Wulff „tut das bis heute weh“
Ortstermin: Bundespräsident a. D. Christian Wulff und Poetry-Slammerin Julia Engelmann in einem stillgelegten Erzbergwerk im Harz. Wulff versteckt das Private – und hat einen Tipp für Engelmann.
Als sie noch Autogramme gibt, ist er schon weg. Vorher hatte er einmal tief ein- und wieder ausgeatmet, sie angelächelt, sich im Sessel ein Stück zurückgelehnt und seinen Arm auf das dicke rote Polster gelegt. Das Atmen, das Rundwerden des durchgedrückten Rückens: Das sind die zwei einzigen Gesten, die an diesem Abend etwas verraten mögen über den Mann, der sich die zwei Stunden davor wohlzufühlen schien an der Seite einer jungen Frau, und das, obwohl ein Journalist sie beide befragte: Christian Wulff, Bundespräsident a. D. und Privatier auf Mission.
Draußen verdunkeln Fichten den Blick auf die Berge, drinnen hängen Stofflappen in Metallkörben von der Decke: Wir befinden uns im Bergwerk Rammelsberg, Weltkulturerbe im Harz. Tausend Jahre lang förderten die Menschen hier Erze, heute lädt die Stadt Goslar regelmäßig Prominente zu Diskussionen über gesellschaftliche Fragen in das Museum ein. „Der Berg ruft! – Zukunft fördern“ hat man die Reihe getauft, und am Mittwoch sollten hier Christian Wulff, 56, und die Schauspielerin und Poetry-Slammerin Julia Engelmann, 23, unter der Moderation des Chefredakteurs der Lokalzeitung darüber sprechen, wie es ist, ein Leben in der Öffentlichkeit zu führen.
Die Welt, 12. Mai 2016
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Wenn das Kind nie aus dem Gröbsten raus ist
Eltern schwerbehinderter Kinder stehen vor der Wahl: Heim oder Pflege zu Hause. Ein betroffener Vater hat jetzt ein Ferienhaus gegründet, in dem alle zusammen Kraft tanken können.
Als der Sohn von Steffen Schumann auf die Welt kam, schrie der Junge laut. Es ist der einzige Ton, den der Vater je von seinem Sohn gehört hat. Seitdem ist Noah stumm. An seinen Stimmbändern streicht keine Luft vorbei, weil er einen Luftröhrenschnitt hat. Noah ist mit dem Marshall-Smith-Syndrom geboren worden. In den vergangenen 35 Jahren hat man 34 Fälle dieser Genmutation diagnostiziert. Auf der ganzen Welt.
Heute ist Noah elf Jahre alt. Er sitzt im Rollstuhl, kann kaum schlucken, sein Kopf ist verformt, sein Brustkorb ist für die Lunge zu klein. Als der Arzt ihnen eine Woche nach Noahs Geburt sagte, ihr Sohn würde niemals sprechen, niemals laufen können, traf sie das völlig unvorbereitet. Alle Tests auf mögliche Krankheiten waren negativ ausgefallen, das Bild ihrer Familie sah bis dahin so aus: Mama Krankenschwester, Papa Vermögensberater, zwei gesunde Kinder, ein Häuschen im Grünen, zwei Autos vor der Tür. Geplant wurde von Urlaub zu Urlaub. Seit 2005 geht das alles so nicht mehr. Eine Reise kann die Familie unter normalen Umständen nicht mehr machen. Nicht einmal einen Ausflug.
Die Welt, 13. November 2016
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Wie Sonja Barthel dem KZ entkam
Die Lüneburgerin Sonja Barthel wird im April 100 Jahre alt. Trotz ihrer jüdischen Herkunft hat sie den Holocaust überlebt. Sie erzählt, wie sie es mit falschen Angaben schaffte dies zu überstehen.
„Was ist Männertreu?“ Sonja Barthel schaut neugierig, als sie diese Frage stellt. Auf eine Antwort wartet sie aber nicht lange, sondern gibt sie kurzerhand selbst: „Eine nicht ausrottbare Illusion der Frauen.“ Barthel lacht, ihre blassen blauen Augen blitzen, und als auch ihre Besucherin laut auflacht, freut sie sich sichtlich. Denn diesen Witz hat sich die Lüneburgerin selbst ausgedacht. Sonja Barthel wird am 17. April 100 Jahre alt, hat mit ihrer jüdischen Abstammung den Holocaust überlebt – doch ihren Humor hat sie nicht verloren.
1938 zurück nach Deutschland
Ihr Vater kam aus Ostpreußen, ihre Mutter aus Posen, die beiden lernten sich 1913 bei einem Lehrgang für Marxismus und Sozialismus in Berlin kennen. Drei Monate später heirateten sie – er aus einer deutschnational eingestellten Familie, sie aus einer jüdischen. Beide setzten sich gegen die offenkundige Kritik der Eltern an der Verbindung durch, und ihr politisches Engagement legten sie auch ihren Kindern in die Wiege. Bei Sonja Barthel jedenfalls zieht es sich durch ihr gesamtes Leben. Noch heute stehen ganze Ordner voll mit politischen Reden bei ihr im Regal. …
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20. März 2017
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Wie sich der Norden gegen die Einheitssaat wehrt
Regionale Produkte liegen im Trend. Doch was tun, wenn die Großkonzerne nicht das nötige Saatgut züchten? In Norddeutschland haben sich Biobauern vereint, um die bedrohten Sorten zu retten.
Der Raum, in dem sich Solja Kaltenbachs ganzes Problem offenbart, ist drei Quadratmeter groß. An der Wand steht ein Metallregal, auf dessen Böden sich Schraubgläser aneinanderreihen, viele Dutzend, gefüllt mit Bohnen: braunen, schwarzen, weißen, roten und gescheckten. 119 verschiedene Sorten, die sie hier, 70 Kilometer südöstlich von Hamburg, anbaut. Der Raum wäre eine Schatzkammer – wenn da nicht das Bundessortenamt wäre.
Kaltenbach, Geschäftsführerin eines seit fast 40 Jahren biologisch-vegan wirtschaftenden Gärtnerhofs, muss die meisten ihrer Bohnen selbst essen. Alternativ macht sie Schmuck aus ihnen, zieht sie wie Perlen auf Ketten und Armbänder. Als Nahrungsmittel verkaufen darf sie nur eine Handvoll ihrer Bohnen. Die übrigen besitzen keine Zulassung. …
Die Welt, 22. März 2017
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Sie wiegt 170 Kilo und fühlt sich „wie eine verdammte Elfe“
Nicole Jäger wiegt 170 Kilo – nur noch halb so viel wie früher. Sie weiß, warum sie fett ist. Deswegen kann sie anderen Übergewichtigen nun beim Abnehmen helfen. Und Magersüchtigen beim Zunehmen.
Irgendwann hat Nicole Jäger ihre Post nur noch nachts aus dem Briefkasten geholt. Damit sie keiner sah. Sie, die fette Frau aus dem siebten Stock. Im Nachhinein war das fast noch eine gute Zeit: Ein paar Jahre später holte Nicole Jäger ihre Post gar nicht mehr aus dem Briefkasten.
Eine blonde Frau mit Haarreifen und Brille sitzt sorgfältig geschminkt in ihrer Praxis im feinen Hamburg-Harvestehude, vor ihr stehen zwei Gläser, eins mit Wasser, eins mit Apfelschorle. Wenn sie sitzt, sieht man hinter dem Schreibtisch eine sehr gepflegte Frau mit rundem Busen, weißem Dekolleté und kräftigen Armen in einem eng anliegenden roten Oberteil. Man sieht ihr ins Gesicht. Wenn sie aufsteht, drückt sie ihren Körper mit den Armen nach oben, und man blickt unwillkürlich an ihr herunter. Der enorme Bauch reicht bis an ihre Seiten, der Hintern wirkt, als hätte ihr jemand ein Kissen unters Kleid gestopft. Und Nicole Jäger sagt: „Ich bin eine verdammte Elfe.“ …
Die Welt, 15. Februar 2016
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Dieses Haus darf nicht nur schön sein
Es galt über Jahre als die Elbphilharmonie Niedersachsens: Ein Bauwerk der Extraklasse, aber viel teurer als geplant. Jetzt ist das Audimax der Universität fertig – und mit Erwartungen überfrachtet.
Wer hat dieses Bauwerk hier nur abgeworfen? Dieser fantastisch futuristische Komplex steht so nah an einem plumpen Klotz aus roten Backsteinen, dass man den feinen Neubau am liebsten packen, hochheben und 50 Meter weiter wieder auf die Erde setzen würde, damit er nicht erstickt. Seine eleganten Platten aus Zinkblech recken sich nach oben, scheinen sich vom Grundriss des Gebäudes freizumachen, gehen ihren eigenen Weg, diagonal, an keinen rechten Winkeln orientiert. Silbrig glänzen die Zacken in der Sonne, mausgrau wie Beton wirken sie unter Wolken. Dieses Haus ist so sehr gegen alle Erwartung und Ordnung, dass es eher aussieht wie aus einer Filmkulisse als aus der niedersächsischen Provinz.
Das schillernde Stück ist das neue Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg, entworfen von dem New Yorker Stararchitekten Daniel Libeskind, seine schnöde Umgebung ist eine zum Campus umfunktionierte Kaserne außerhalb des Stadtzentrums. Nach fünfeinhalb Jahren Bauzeit ist das Prestigeobjekt fertig geworden, die Bauaufsicht hat es nach einer zwei Tage dauernden Sicherheits- und Brandschutzprüfung soeben zur Nutzung freigegeben. Lange Zeit sprach man beim Audimax von einer Art Elbphilharmonie Niedersachsens: Es ist das spektakulärste und teuerste Projekt der vergangenen Jahre im Land, mit einer Bauverzögerung von knapp drei Jahren und einer Kostensteigerung von 57,7 auf mehr als 100 Millionen Euro, finanziert zum allergrößten Teil aus Steuermitteln. Und beladen mit einem Ballast an Bedeutung. …
Die Welt, 13. Februar 2017
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Dieser Mann hat 80 Kinder. Ungefähr …
Martin Bühler hat jahrelang privat Samen gespendet. Mehrere Dutzend Kinder sind daraus entstanden. Doch als seine Frau die gemeinsame Tochter zur Welt brachte, konnte er plötzlich nicht mehr.
Als Martin Bühler zum ersten Mal seine Tochter in den Armen hielt, fühlte er sich sonderbar. Für diesen kleinen Menschen war er zum ersten Mal nicht nur der Erzeuger, sondern tatsächlich der Vater – mit all der dazu gehörenden Verantwortung. Bei allen anderen Kindern hatte er sein Ejakulat abgegeben und sich gefreut, wenn eine Frau schwanger geworden war von ihm. Jetzt bekam auf einmal seine eigene Frau ein Kind von ihm. Und Martin Bühler wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
Jahrelang hatte Martin Bühler seinen Samen gespendet, insgesamt an mehr als 150 Paare. Angefangen hatte seine Kindererzeuger-Karriere Anfang der 90er-Jahre als Job bei einer Samenbank, mit dem er sein Studium mitfinanzierte. Am Ende war es für ihn eine Lebensaufgabe, von der er sich nur sehr schwer lösen konnte. Und doch musste. …
Die Welt, 24. November 2016
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